Wahrnehmung

Wie schon erwähnt „sieht“ der Mensch weniger mit den Augen als mit dem Gedächtnis. Und dieses Gedächtnis geht weiter zurück als unsere eigene Lebensspanne. Einige „Erinnerungen“ sind vielmehr Instinkte, die wir von unseren Vorfahren aus der Steinzeit geerbt haben. Mit dem ersten Anblick eines Objekts klärt der Mensch die drei elementaren Fragen:
Ist es zur Fortpflanzung geeignet?
Ist es essbar?
Will es mich essen?!

Dieser Grundcheck geht so schnell und so automatisch, dass er uns höchst selten und nur dann auffällt, wenn unser Instinkt eine der Fragen mit JA! beantwortet. Dann bekommen wir entweder Herzklopfen, Heißhunger oder einen riesigen Schrecken.

In den nächsten Sekundenbruchteilen werden die gesehenen Formen und Farben, dem zugeordnet, was wir bereits kennen oder was etwas Bekanntem ähnlich sieht. Wie leicht man sich bei dieser Schnellerkennung irren kann, wissen wir aus zahlreichen optischen Täuschungen. Hier ein Beispiel von Sandro del Prete:

Die nackte Frau, die wir deutlich zu sehen glauben, wird bei genauer Betrachtung zur Illusion. Ihre Umrisse bestehen aus Vorhang, Katze, Regal, Blumentopf, Weinglas und Strümpfen. Der nicht vorhandene Körper ist eigentlich bloß eine nackte Wand.

Formen, die wir nicht kennen, oder solche, die schwer erkennbar sind, müssen wir länger betrachten, um sie zuzuordnen. Manchmal muss man regelrecht mit der Nase darauf gestoßen werden! Weiß man aber, was sich hinter dem Muster verbirgt, erkennt man es später ohne Schwierigkeiten. (Rupert Sheldrake – BBC Experiment)

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Und was bringt uns diese Erkenntnis für die fotografische Bildgestaltung? 

Einiges!

Denn wir wissen nun: Es gibt leicht erkennbare und schwer erkennbare Bilder.

Die leicht erkennbaren Bilder transportieren ihre „Botschaft“ direkt und in Sekundenbruchteilen. Das kann Vorteile haben, denn man braucht keine langen Erklärungen, um ein Bild zu verstehen. Das kann Nachteile haben, denn wenn ein Bild schnell verstanden ist, ist es auch schnell uninteressant.

Die schwer erkennbaren Bilder brauchen Zeit. Vorteil: wenn das am Ende erkannte Objekt den Betrachter interessiert, wird er beeindruckt sein (wegen des Lerneffekts, der Befriedigung etwas begriffen zu haben, wegen der positiven Überraschung). Wenn es zu lange dauert, etwas zu erkennen, oder wenn das erkannte Objekt zu langweilig ist, schaltet der Betrachter ab, bevor er verstanden hat, worum es geht.

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